Die Geburt

Der Kuss des Vergessens

Das Öl geht ins Wasser. Das Wasser ist das Leben. Stundenlange Wehen, gewaltige wundersame Kräfte, hormonelle Wellen wirken auf sichtbarer und unsichtbarer Ebene. Das Wunder der Natur.

Ein wachsender Forschungszweig befasst sich mit der Wirkung dieses wundervollen Naturereignisses auf die Physiologie und Molekularbiologie des Kindes. Hier wird eine leicht veränderte Physiologie von natürlich geborenen Kindern im Vergleich mit Kindern, die ohne Wehen per Kaiserschnitt zur Welt kamen, gefunden. Die drei derzeitigen Highlightkandidaten der Ursachenforschung sind Einflüsse durch den physischen und hormonellen Stress, abweichende mikrobiotische Kolonisation und epigenetische Modifikation der Genexpression. Diese Überlegungen sind von epidemiologischer Evidenz geleitet, in zwei führenden Hypothesen formuliert worden: Die Epigenetics Impact of Childbirth (EPIIC) Hypothese  geht davon aus, dass physiologischer Eu-Stress während einer natürlichen Geburt epigenetische Wirkung auf bestimmte Gene hat. Im Rahmen der Extended Hygiene (EH) Hypothese wird der Einfluss des Geburtsmodus auf die kindliche mikrobiotische Besiedelung untersucht. Die Untersuchungen beziehen sich zum Großteil auf Kaiserschnittgeburten, die durch Beeinflussung von Immunsystem und Metabolismus mit Kurz- und Langzeitwirkungen auf die Gesundheit verbunden sind. 

Kaiserschnitt: Neben Kurzzeitauswirkungen wie Atem- und Stillproblemen sind Langzeitfolgen betreffend Atem- und Immunstörungen wie Asthma, Allergien und entzündliche Darmerkrankungen; Übergewicht und Adipositas, die wiederum mit einem erhöhten Risiko für metabolisches Syndrom und kardiovaskuläre Erkrankungen verbunden sind; sowie neurologischen Erkrankungen einschließlich Schizophrenie, Autismus Spektrum Störungen, Dopaminstoffwechsel-und Verhaltensveränderungen beschrieben worden.

Hormone
Auf wundersame Weise weisen Hormone der Geburt den Weg. Unter den Augen der Forschung gibt es Hinweise auf zwei Arten von Dys-Stressantworten. Eine Herunterregulierung der Cortisol-antwort auf Stress nach elektivem Kaiserschnitt und eine erhöhte Stressantwort nach instrumentaler vaginaler Geburt. Zweitens gibt es zunehmende Evidenzen, dass Wehen und vaginale Geburt die Konzentration verschiedener Hormone, wie Prolaktin, Thyroxin, Triiodthyronin, Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin bei der Geburt beeinflussen. Die Abwesenheit von Wehen und Kaiserschnitt kann zu einer veränderten Entwicklung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und einer beeinträchtigten Stressreaktivität führen. Die EPIIC-Hypothese geht davon aus, dass reduzierte oder erhöhte Cortisol-, Adrenalin- oder Oxytozinspiegel während der Wehen zu epigenomischen Anomalien und damit einhergehender abnormaler Genexpression führen können. Eine kleine Anzahl von Studien hat epigenetische Veränderungen in Zusammenhang mit dem Geburtsmodus untersucht und teilweise Unterschiede der DNA-Methylierung zwischen natürlich und per Kaiserschnitt geborenen Kindern gefunden.

Oxytocin: Von innen, das Hormon der liebevollen Mutterschaft. Die Auswirkungen von exogener Oxytocingabe unter der Geburt ist mit der Dysregulation physiologischer Prozesse, verspäteter Laktation, postpartum PTBS und der Entwicklung behavioraler Störungen im Autismusspektrum und Aufmerksamkeitsdefiziten verbunden. Es wird vermutet, dass hierbei auch das Oxytocin-Rezeptor-Gen OXTR epigenetischer Modifizierung unterliegt.

Wahrnehmungserweiterung
Wenn ich Angst habe, bin ich wacher und achtsamer. Angst erweitert die Wahrnehmung. Eine Geburt ist ein tiefgreifendes wahrnehmungserweiterndes Erlebnis und Angst ist natürlicherweise mit dabei. Nimmt die Angst Überhand und sogar die Führung, dann handle ich aus Angst anstelle von mit meiner Angst. Dann ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten, die Angst wird zur Einschränkung und die Möglichkeit einer Traumatisierung wächst. 

Angst und Trauma: In der medizinischen Forschungsliteratur sind präpartale Ängstlichkeit und Geburtsangst mit längeren Wehen, periduraler Anästhesie und Kaiserschnitt verbunden. Diese wiederum mit weiteren Folgen. Allgemein sind medizinische Interventionen, wie Geburtseinleitung und Verstärkung der Wehen, Zangen- und Saugglockenentbindungen sowie Kaiserschnitt mit erhöhtem Risiko für die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) mit weitreichenden Folgen für Mutter und Kind verbunden.

Bewegung, Bindung und Entbindung
In meiner kinematischen Forschung habe ich einen Zusammenhang zwischen dem kinematisch erfassten Explorationsverhalten, dem Geburtsmodus und dem Bindungsstil der Kinder gefunden. In dem  Forschungsprojekt wurden  der Geburtsmodus, das Bewegungsverhalten, und der Bindungsstil erhoben. Explorationsverhalten wurde in 47 kinamtischen Parametern erfasst, die fünf Kategorien zugeordnet wurden: Autonomie, Beziehung, Spontaneität, Raum-Zeit und Sensomotorische Integration. Für die Bindungsstile wurden die drei organisierten Muster sicher (B), unsicher-vermeidend (A) und unsicher-ambivalent (C) erhoben. Für den Geburtsmodus wurden spontan (s), Kaiserschnitt (KS), Periduralanästhesie (PDA), Weheneinleitung (WE) und instrumentelle Hilfsmittel (Vakuumextraktion/ Forzeps/ Kristellern) (HM) als Variablen für die Vorhersagen untersucht. Die Auswertung erfolgte mit verschiedenen statistischen Verfahren und zeigte Zusammenhänge zwischen der Art der Geburtsvorgangs, dem Bindungsstil und dem Explorationsverhalten des Kindes. 

Zauber
"Und allem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und leitet." Das schönste Erlebnis der Welt, die größte Seelenfreude ist auch am empfindlichsten für Irritationen und Verirrungen. Der Zauber ist es, der beschützt und leitet und wer ihn sucht, sieht, spürt, fühlt oder hört, ist auf seinem Weg.  

Referenzen und mehr dazu finden Sie in dem Artikel "Von der Empfängnis bis zur Geburt" unter dem Menüpunkt Artikel sowie dem dort genannten Buchkapitel "Traces of the invisible world of becoming - Epigenetic correlates of prenatal psychology".